Aufbruch am 21. Mai 2016 von der Schweiz bis zum Nordpol
Blog 1, 23. Mai 2016
Die Wochen, Tage, Stunden und Minuten waren vor der Abreise bis auf die letzte Sekunde ausgereizt. Tausend Dinge, die vor einer Langzeit-Expedition (oder einer langen Reise) erledigt werden müssen. Die Post umleiten, damit sie sich nicht über Monate auftürmt und liegengebliebene Rechnungen nicht zu unliebsamen Betreibungen mutieren. Beim Telecom-Anbieter die günstigste der überteuerten Lösungen für Mobilfunk organisieren. Alles Nebensächlichkeiten neben anderen, dutzenden Aktionen.
«Du siehst müde aus», sagte meine Schwester am Abend vor meinem Expeditions-Start.
«Ich bin müde», war meine Antwort und dann feierten wir, spontan mit Freunden, warfen Fleisch auf den Grill und tranken Wein und Bier und lachten und festeten den Abschied am nächsten Tag. Feste feiern hatte ich über Jahrzehnte nicht mehr getan, denn früher, vor langer, langer Zeit, als ich noch als patentierte Skilehrerin arbeitete, mündeten Feste meistens in alkoholgetränkten Peinlichkeiten, die ich damals und als Leistungssportlerin sowieso, nicht verstand. Feste feiern lernte ich erst viele Jahre später neu, im Basislager des Mount Everest. Dass gerade das ausgelassene Zusammensein, diese Stunden des gemeinsamen Lachens, Singen und Tanzen oder dieses `Schulter an Schulter – Kopf an Kopf-Zusammensitzen` und `melancholische Gucken in ein Whisky-Glas` wichtige Momente der Gemeinschaft sind, um das Bevorstehende, Schwierige und auch Angst einflössende, besser ertragen und hoffentlich auch besser meistern zu können.
«Eine Frage hätte ich», schrieb ein Facebook-Anhänger unter meinen Blog, «warum tun Sie sich solche Expeditionen, solche Extremleistungen eigentlich an»?
Es ist die gefühlte tausendste, immer gleiche Frage, mit der ich und mit mir sicher viele andere Extrem-Sportler, Extrem-Alpinisten und auch Extrem-Reisende, konfrontiert werden.
«Weil sie es kann», antwortete am 10. Januar 2008 mein inzwischen verstorbener, damaliger Lebenspartner, als er von den Medien über das eigenartige Tun seiner Freundin ausgefragt wurde, als ich nach 484 Tagen des Unterwegsseins den Südpol erreicht hatte und nach Hause zurückgekehrt war. Ich selber würde es nicht ganz so vor den Kopf stossend formulieren: «Weil die Ernte von Erfahrungen Erkenntnisse sind», sagt ein wunderschöner Spruch, dessen Name seines Erschaffers ich vergessen habe, aber dessen Worte zutreffender nicht sein können. Neue Erfahrungen die zu neuen Erkenntnissen führen, finden sich wenig im Alltag.
`Alltag`, um Missverständnisse zu vermeiden, verstehe ich nicht etwa als negative Langeweile, sondern als Oase zwischen meinen Aktivitäten mit Ritualen. Sei es das Füttern der Katzen, der Milchkaffee zum Frühstück, die Zeitung während einer Pause, der Austausch mit den mehr oder weniger gleichen Menschen, der Besuch im Lieblingslokal und so weiter. Alltag bedeutet für mich Ruhe, ein Ort, um Kräfte zu sammeln. Mein eigenes Bett, der Kühlschrank, die heisse Dusche, die gewärmte Bodenheizung im Winter, das Nachhause kommen nach langen, kräftezehrenden Bergtouren oder das Heimkommen nach Vorträgen, die mir energetisch viel Kraft abverlangen. Auch der widerwillige Gang in mein Büro um als selbständig Erwerbende stunden- und tagelang Zettel und Belegspapiere für die Steuerbehörden zu sortieren oder meine Ideen auf Papier zu bringen, sie zu formulieren und ihnen damit bereits eine festere Form, als die der ungreifbaren Gedanken, zu geben. All das ist für mich mein Alltag. Eine gewisse, tägliche Ritualabfolge, die mir Sicherheit und Entspannung gibt. Aber wachsen in diesem Alltag Erkenntnisse? Ich glaube kaum.
Im allzu lange gelebten Alltag schleichen sich meist unbemerkt Selbstgefälligkeiten hinein. Weil man etwas oft und lange tut, weil sich ein gewisser Status zur Selbstverständlichkeit entwickelt hat und weil man unter Umständen niemand hat der uns ermahnt oder nichts da ist das uns zwingt, inne zu halten. Nur unter diesem Aspekt der Selbstgefälligkeit kann ich mir die Rechtfertigung eines Bundesrates erklären, dessen Interview ich kurz vor dem Verlassen der Schweiz auf meiner ersten Etappe Richtung Nordkap auf dem Weg zum Nordpol (bei einer kurzen Pause auf dem Velo) in einer Sonntagszeitung gelesen habe. Dass ein Lohn von über eineinhalb Millionen Schweizer Franken für einen CEO des Service Public angemessen sei, stand da, habe der Ueli Maurer gesagt. Er wolle keine «billigen Chefs die nichts leisten». Diese Äusserung hat mich hart getroffen. Was uns Ueli Maurer da sagt, heisst im Umkehrschluss, dass Arbeiter, und ich gehöre auch zu dieser Spezies, wir Arbeiter also «billig sind und nichts leisten», wenn wir, obwohl wir im Winter an die Zehen frieren, wenn wir Menschen auf die Berge führen oder sie von den Bergen runter retten, Arbeiten im Regen verrichten oder auch einfach hinter einer gefährlichen Werkbank einen Mehrwert leisten, aber am Ende des Monats trotzdem nur ein paar tausend Franken dafür bekommen. Selbstgefälligkeit ist eine Krankheit, die jene Menschen befällt, die sich an viel zu viel Alltag gewöhnt haben und den Bezug zum Wert des Alltags verloren haben. Auch ein Bundesrat ist davor nicht gefeit, wie sich feststellen lässt. Mit dem Unterschied, dass Selbstgefälligkeit, wenn sie sich im Kern eines grossen Systems wie der Politik zu verbreiten beginnt, mehr Zerstörung anrichtet, als der Apfel, der von innen heraus verfault, seine Fäulnis aber von aussen noch nicht sichtbar ist.
Es gibt viele Motivationen, um die Frage des Facebook-Lesers stellvertretend zu beantworten, aber auch deswegen begebe ich mich immer wieder in die schöne und gleichermassen manchmal unwirtliche Natur. Sie macht mich klein. Nicht gross. Mit Selbstgefälligkeit kommt man in der Natur nirgends hin. Um es mit den Worten von Reinhold Messner auszudrücken: «Auf Expeditionen begegne ich nicht meinem Mut. Sondern meinen Ängsten und Zweifel, meinen Mängeln und der Erkenntnis, dass ich ein kleines Würstchen bin».
Es ist nicht das Geld, wie Ueli Maurer glaubt, welches zu Höchstleistungen antreibt. Und ich denke, es gibt da draussen viele Menschen wie ich, die das genauso empfinden. Es ist die Erfahrung, die man als Mensch machen kann, Grosses zu leisten und klein zu bleiben. Weil klein bleiben für das grosse Ziel zielführender ist.
Dass ich nach der Gipfelbesteigung des Mount Everest und dem Erreichen des Südpols nun auch zum Nordpol unterwegs bin, ist mein ganz persönlicher Fussabdruck, mit dem ich mein Leben zum Ausdruck bringe. Mal kämpfe ich, mal geht es einfacher. Mal freue ich mich, mal verfluche ich meine Ideen, die mich auf den Weg geschickt haben. In dieser Bandbreite des Erlebens bleiben aber die Füsse definitiv auf realistischem Boden. Die Selbstgefälligkeit würde mich durch keinen Sturm führen, sie wärmt keine kalten Hände, trocknet keine nassen Kleider im nassen Zelt und Schlafsack. Und da ich am Ende einer solchen Reise keine Siegesprämie und keinen Bonus einkassiere, sondern vorerst mein Bankkonto geplündert habe, weiss ich, dass Höchstleistungen, dass Motivation keine Frage des Geldes ist.
Herr Bundesrat, ich glaube nicht, dass jemand es wert ist, eine Million und mehr Franken Geld im Jahr zu verdienen. Schon gar nicht im Service Public. Es ist die Fäulnis im Apfel, die Selbstgefälligkeit in Form eines wiederholten Singsangs, der uns Arbeitern in den letzten Jahrzehnten glauben gemacht hat, dass solche Löhne gerechtfertigt sind. Ich entschuldige mich bei meinen Lesern für die für mich so untypische, politische Einmischung. Aber diese Worte mussten raus, damit ich mich erleichtert auf den Weiterweg zum Nordpol machen kann.
Ich hoffe, viele Menschen inspirieren zu können, raus zu gehen, dem Schönen und dem Unwirtlichen gleichermassen zu begegnen. So bekommt auch der Alltag die bewusste Wertschätzung zurück und lässt die Selbstgefälligkeit im Regen stehen.
Von Herzen ein paar schnelle Gedanken beim Aussitzen des Regenwetters…, eure Evelyne
- Etappe 1: Fahrradstrecke von der Schweiz bis ans Nordkap 4500km von Mai bis Juli 2016
- Etappe 2: Zu Fuss Durchquerung des grönländischen Inlandeises 600km auf Ski von Aug. bis Sept. 16
- Etappe 3: Zu Fuss Durchquerung Spitzbergen 200-400km auf Ski im März 2017
- Etappe 4: Zu Fuss von russischer Eisstation bis Nordpol und zurück 200-400 km im April 2017