Die Ankunft am Nordpol am 12. April 2017 und der Eisbär

Veröffentlicht vor 2586 Tagen

10. April 2017:

Es war ein anstrengender, aufwühlender Tag. Ich sitze im Zelt mit Tränen in den Augen. Offensichtlich bin ich die Einzige aus dem vierköpfigen Team, die mit der Situation schlecht klarkommt. Den Anderen, Pavel dem Tschechen, Marin der jungen Japanerin und Dixie dem Teamleader, scheint das Ganze an der Seele vorbeizugehen.

Gestern, am 9. April und unserem sechsten Tag unterwegs auf dem zugefrorenen Nordpolar-Meer Richtung Nordpol, stosse ich, als ich die Gruppe anführe, auf frische Eisbären-Spuren. Es ist sehr ungewöhnlich, dass sich Eisbären so weit im Norden aufhalten. Wir sind nur noch zirka 40 Kilometer südlich von meinem ersehnten Ziel, dem Nordpol, entfernt.
Nach insgesamt über hundert Tagen in Etappen unterwegs (zusammengesetzt aus der Fahrrad-Etappe von zu Hause bis ans Nordkap, der Grönlandtraversierung und der wegen des Wetters nicht zu Ende geführten Spitzbergenüberquerung) erfüllt mich jetzt die Tatsache, so nahe an meinem Ziel zu sein, mit grosser Vorfreude. Nach dem Erreichen des höchsten und des südlichsten Poles unserer Welt, dem Everest und dem Südpol, bedeutet der Nordpol der dritte Pol.
Aber heute, heute ist diese Freude gewichen und ein Schmerz legt sich über meine Gefühlswelt. Ich weiss, dass das, was sich vor ein paar Stunden auf dem Eis zugetragen hat, in dieser Art nicht hätte passieren dürfen. Ich weiss, etwas ist nicht richtig abgelaufen und ich fühle mich mitverantwortlich. Aber alles der Reihe nach.

«Da sind sie also, die Eisbären», denke ich, als ich die Bärenspuren entdecke. So weit im hohen Norden! Ich bin erstaunt und voller Bewunderung für dieses starke, wilde und wunderschöne Tier, welches sich die lebensfeindlichste Gegend unseres Planeten zu seiner Heimat gemacht hat.
Vor einem Monat, als ich für die Etappe 3 (der Durchquerung von Spitzbergen von Süden nach Norden) Formalitäten bei der Regierung für die Bewilligung erledigte, vernahm ich, dass weder die Crew der Polizei, noch Wissenschaftler und Guides zurzeit wissen, wo sich die Eisbären diesen Winter aufhalten. Normalerweise befinden sie sich in grosser Anzahl an der Ostküste von Spitzbergen. Insgesamt über 3500 Eisbären leben alleine auf dieser Arktisinsel Aber dieses Jahr wurden noch fast keine Tiere gesichtet.

11. April 2017

Es ist der zweitletzte Tag, es fehlen jetzt nur noch 23 Kilometer bis zu unserem Ziel, 90° nördliche Breite, was den geographischen Nordpol definiert. «Definiert» ist allerdings das falsche Wort. Der Nordpol kann nicht festgenagelt werden, er steht nicht auf Festland, sondern ist mitten im Nordpolar-Meer. Und obwohl das Nordpolar-Meer wegen seiner gefrorenen Eisschicht im Winter statisch erscheint, ist es doch eher wie ein Fluss mit langsamer Strömung, der stets in Bewegung ist und die Eisschichten darüber dauernd verschiebt. Bei extremen Bedingungen, kann diese Drift bis zu 20 Kilometer am Tag betragen. Wenn man also genau auf dem Nordpol stehen bleibt, dann trägt einem die Drift jede Minute ein Stück vom Pol weg und ein paar Stunden später ist man bereits vom Pol, wo man eben noch gestanden hatte, einige Kilometer und im wahrsten Sinne des Wortes, weggeschwemmt worden.
Morgen werde ich diesen magischen Punkt erreichen.
Aber der traurige Zwischenfall heute Morgen, der sich zwischen 10.15 Uhr und 10.55 Uhr zugetragen hatte, legt sich als schwarzer Schatten auf meine Traumverwirklichung.

Acht Marschstunden liegen hinter uns, die Zelte haben wir bei minus 35° Celsius aufgebaut. Stumm habe ich den Kocher in Gang gesetzt um Schnee zu Wasser zu schmelzen und das kochende Wasser in die Thermosflaschen zu giessen. Ich gönne mir eine Suppe und rühre das gefriergetrocknete Nachtessen an. «Warum hat Dixie dem Bären nur einen einzigen Warnschuss abgegeben und danach Pavel direkt aufgefordert, auf den Bären zu zielen?» Ich kann die Tränen nicht zurückhalten. Die Situation geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich verstehe nicht, was in Dixie gefahren ist. Der Eisbär kam relativ nahe, ja, aber es gab noch keine Anzeichen eines aggressiven Verhaltens. Er war nur neugierig.
Fragen über Fragen.
Warum hatte Dixie nicht selber die Nerven für die Verteidigung?
Warum befahl Dixie Pavel viel zu früh zu so einer überstürzten Handlung?
Ich verstehe schon, dass uns Dixie vor dem Bären beschützen wollte. Aber gleichzeitig war er der Situation nicht gewachsen, sonst hätte er nach einem genauen Prozedere gehandelt, ein Prozedere, das man lernt, wenn man sich auf Eisbären-Land im Freien bewegt. Diese Regeln dienen nicht nur für die Sicherheit es Menschen, sondern auch für die Sicherheit des Bären.

Es geschieht wie folgt:

Marin, die Japanerin, klagt am Morgen über Kopfschmerzen. Das erstaunt mich wenig, denn sie wollte am Vorabend unbedingt ihren Schlafsack im Zelt trocknen und liess hierfür den Benzinkocher über mehrere Stunden brennen. Vermutlich bekam sie zu viel Kohlenstoffdioxid in ihre Atemwege. Dixie, der Leader, bot ihr deswegen am Morgen die Führung an. Bei allem Respekt, was Marin in den letzten vier Jahren geleistet hat, ihre Ausdauer und ihre Entschlossenheit sind bemerkenswert, aber in der Wildnis ist sie trotzdem unerfahren. Sie ist «nie am scharfen Ende des Seiles gegangen», so bezeichnen wir Alpinisten einen Bergsteiger, der nie die Verantwortung und die Führung für eine Seilschaft übernommen hat. Aber ich denke mir, sie würde heute sicher rasch ihre Kopfschmerzen vergessen, wenn sie sich auf die Navigation, also auf den Winkel des eigenen Schattens zur Marschrichtung, anstatt auf ihr Schädelbrummen, konzentrieren würde. Und so musste wohl auch Dixie gedacht haben. Trotzdem beschleicht mich ein diffuses Gefühl des Misstrauens, weil hier, wo Marin uns führen soll, kein offenes, einfaches Gelände ist, sondern Press-Eis. Eis, das sich durch die Strömung über längere Distanzen kreuz und quer, wild übereinandergeworfen hat. Ich äussere meine Meinung dazu nicht und obwohl ich für mich einen einfacheren Weg um die aufgeworfenen Eisblöcke einschlage, folge ich im Wesentlichen Marin Spur, bis ich bemerke, dass die Männer hinter uns nicht mehr zu sehen sind. Ich stoppe meinen Schritt und warte, aber ich bin bereits zu weit weg, um in Ruf-Distanz zu sein. Also löse ich mich vom Schlitten, greife zu meiner Kamera, die ich im Bug meines Schlittens platziert habe, gehe ein paar Meter den Jungs entgegen und steige auf einen Eisblock um mit ihnen Blick- und Rufkontakt herzustellen, als ich schon Dixie’s Stimme rufen höre, dass Pavel’s Zuggurte gerissen sei. Marin bemerkt nicht, was hinter ihrem Rücken geschieht und marschiert weiter. Ich rufe ihr zu, sie solle warten. Wie ein Sendeturm stehe ich also zwischen Marin, die etwa hundert Meter an der Spitze vor mir ist und den Jungs, in entgegengesetzter Richtung hinter mir, etwa gleich viele Meter entfernt. Ich beobachte, dass Marin sich verpflegt. Wie sie später sagt, ass sie Salamistücke aus einem Plastikbeutel, den sie danach halbvoll auf ihren Schlitten legt. Danach hängt sie den Schlitten von ihrer Zuggurte ab um zu mir zu kommen und sich genauer zu erkundigen, was mit den Jungs los sei. Am hinteren Ende von unserer Kette kann Dixie Pavel’s Zuggurte provisorisch reparieren, während sich auf der gegenüberliegenden Seite, da wo Marin ihren Schlitten mit der Salami zurückgelassen hat, etwas anbahnt, das später zu den Fragen führen wird, die mich tief beschäftigen werden.
Ein Eisbär hatte den Duft von Marin’s Salami in die Nase bekommen. Der Eisbär ist aus dem Nichts aufgetaucht und ist zu ihrem Schlitten gesteuert und geniesst jetzt die Salami, die Marin auf ihren Schlitten gelegt hatte. Jetzt versucht er, den Schlitten bugsierend aufzubekommen, damit er an das herankommt, was seine empfindliche Nase riecht: Mehr Salami im Schlitten. Während Marin schreit, erreicht mich Dixie von der anderen Seite und nimmt das Gewehr aus seinem Schlitten. Er ordert Pavel an, der in der Zwischenzeit zu uns aufgeschlossen ist, seinen Revolver hervorzuholen. Die Signalpistole ist in Marins Schlitten und somit wegen des Eisbären, der Marins Schlitten in Beschlag genommen hat, unzugänglich. Ich nehme weder Revolver noch Flinte in die Hand, sondern in einer Ruhe, die mich selber erstaunt, meine Kamera um zu filmen. Ich bestaune den wunderschönen Körper des Eisbären, seine Bewegungen und bin ein bisschen hin- und hergerissen zwischen völliger Faszination und der Sorge, dass der Eisbär Marins Schlitten stark beschädigen kann, um ans Essen zu kommen. Wir hatten schon zwei Evakuationen: Luc, der Belgier, wurde bereits am dritten Tag mit erfrorenen Fingern evakuiert und Philippe, ein Franzose aus Paris, zwei Tage später am fünften Tag wegen Erschöpfung. Obwohl wir ihm das meiste Gewicht aus seinem Schlitten in unsere gepackt hatten, damit sein Schlitten sehr leicht war, ist seine Leistung zusammengebrochen. Er hatte die Rohheit der hohen Arktis und die physische Anstrengung einfach unterschätzt.
Die Russen, welche die riesigen Mil Mi-8 Helikopter betreuen und deren Such- und Rettungsversicherung ein Nichts kostet, sind deswegen mit Dixie unzufrieden und kündigten an, dass es in unserem Team keine weiteren Evakuationen mehr geben dürfe, sonst müsse das ganze Team aufgeben und ausgeflogen werden. Ein demolierter Schlitten würde zwar nicht das Ende unserer Expedition bedeuten, aber es würde das ganze Team belasten. Aber soweit soll es gar nicht kommen, der Eisbär gibt Marin’s Schlitten auf. Irgendwie ist ihm dieses Möbel zu mühsam, er verliert schnell sein Interesse daran. Pavel setzt mit seinem Revolver einen Warnschuss in die Luft. Der Bär erschrickt, beruhigt sich aber schnell wieder, schnüffelt und wittert und hebt seinen schwarzen Nasenspitz in die Höhe. Jetzt steuert der Eisbär mit wunderschön ausgezogenen Schritten auf meinen Schlitten zu, der sich in etwa 40 Metern Distanz zu uns befindet. Aber Eisbären sind generell sehr clever und wie es scheint, ist es dieser Eisbär insbesondere. Er hat soeben gelernt, dass Schlitten keine guten Nahrungsquellen sind und anstatt seinen Weg zu meinem Schlitten fortzusetzen, ändert er jetzt seine Marschrichtung und kommt auf uns zu, schnüffelt, streckt seine Nase in die Luft, schüttelt seinen mächtigen Kopf. Was für ein wunderschönes Tier! Der Eisbär versteckt sich ein bisschen hinter einer Presseis-Zone und weiss nicht recht, was er als Nächstes tun soll. Die anderen werden nervös. Marin hat Angst. Dixie gibt den Befehl an Pavel, keine weiteren Warnschüsse mehr abzugeben um Munition zu sparen. Ich bin irritiert über diesen Entscheid, vor allem aber bin ich irritiert über seine Begründung. Wieder spüre ich dieses diffuse Gefühl in meinem Bauch, meinen Instinkt, der sich meldet, wenn eine Situation unklar ist. Ich denke mir, dass Dixie seinem Gewehr nicht vertraut. Bei den Vorbereitungsarbeiten vor der Expedition, hatte ich zufällig beobachtet, wie Dixie sein Gewehr manipulierte. Er besitzt ein altes Gewehr mit komplizierter Lademechanik, das Platz für nur vier Schüsse bietet und diese Mechanik klemmte. Dixie’s Handhabung mit dem Gewehr offenbarte einen eher unbeholfenen Schützen. Ich bot ihm deswegen mein eigenes Gewehr an, eine einfach zu handhabende, 12-kalibrige Mossberg-Repetierflinte, die neun Schüssen Platz bietet. Erst einige Zeit später und erst nach der Expedition, als ich die Begegnung mit dem Eisbären mit etwas Abstand und stundenlang analysiere, wird mir bewusst, wie belastet Dixie als Leader in unserer Situation gewesen sein musste. Er musste mindestens in seinem Hinterkopf davon ausgehen, dass sein Gewehr nicht funktioniert.

Ich filme weiter und bestaune den Bären, während ich zur gegebenen Situation immer kritisch und auf Höchstalarm bleibe. Dixie gibt den Befehl, dass ich meine Kamera abstelle. Ich stelle auf taub. Pavel setzt als Jäger zum Schuss ins Herz an. Es sagt, dass der Bär jetzt für einen Schuss perfekt stehen würde. Dixie zischt, er solle dem Bären in die Pfoten schiessen und gibt sogleich das Kommando zum Abfeuern. Ich kann nicht glauben, dass Dixie alle Regeln der einzelnen Schritte zum Schutz des Eisbären überspringt und von nur einem einzigen, abgefeuerten Warnschuss, jetzt direkte Befehle gibt, auf das Tier zu schiessen. Mein: «Waaarteeee!», bleibt in meinem Hals stecken, denn der Schuss geht vor meiner Intervention ab. Der Eisbär wird getroffen. Er flüchtet. Er rennt um sein Leben. Er schüttelt seinen Kopf, stolpert und verschwindet hinter den Eisblöcken und damit aus unserem Blickfeld. Ich stelle die Kamera ab. Ich bin wie gelähmt. Ich glaube einfach nicht, dass Dixie gegen alle Regeln, die er als Leader kennen müsste, verstossen hat und ohne weitere Warnschüsse abzufeuern, Pavel befohlen hat, direkt auf den Bären zu schiessen. Ich gehe zu den Fussspuren des Eisbären. Ich sehe vereinzelte Bluttropfen im Schnee. Ich bin bestürzt. Marin fragt Dixie, ob der Bär überleben wird und Dixie, als könnte er dies wissen, sagt ja. Mir ist schlecht.

Wir machen uns auf den Weiterweg. Der Bär hat an Marins Schlitten keinen Kratzer hinterlassen. Abends um sechs stellen wir die Zelte auf. Als ich im Zelt sitze, fängt meine Seele an zu weinen. Alle wollen sie glauben, dass es dem Eisbären gut geht, dass er sich nicht oder nur leicht verletzt hat. Ich spüre, so ist es nicht. Ich versetze mich in das Leben des Eisbären, stelle mir vor, wie ich jetzt verletzt jagen soll um meinen Magen zu füllen. Ich verlasse mein Zelt, gehe rüber zu Pavels Zelt und will von ihm genau wissen, welche Patrone er abgefeuert hatte. Er hatte die Munition so geladen, dass auf eine normale Patrone ein Schrotschuss folgt. Aus einer Distanz von 30 Metern hätte Schrot dem Bären nicht viel angerichtet. Aber es war nicht die Schrotpatrone im Lauf, die den Bären getroffen hatte.

Fragen über Fragen gehen durch meinen Kopf und im wahrsten Sinne des Wortes habe ich innerhalb kürzester Zeit die Nase voll. Der Vorfall macht mich krank, innert weniger Stunden bin ich fiebrig, meine Nase und Nebenhöhlen verstopfen sich in Windeseile und sind dann komplett zu.

Am nächsten Morgen gehe ich zu Dixie und sage ihm, dass mich der Vorfall mit dem Eisbären stark mitnimmt. Dixie weicht aus und meint, dass hier in der Arktis, wo alles sehr pristin und klar ist, die Gefühle verstärkt seien. Ich spüre einen Stich im Herzen. Geht dieser Vorfall tatsächlich einfach so an Dixie ab? Das kann ich fast nicht glauben, aber wie sich später herausstellt, ist es tatsächlich so.

Am 12. April 2017 um 18.45 Uhr erreichen wir den Nordpol. Mein Traum, worauf ich zehn Jahre gespart und Geld auf die Seite gelegt hatte, hat sich erfüllt. Ich erreiche mit dem Nordpol den dritten meiner Pole. Everest, Südpol, Nordpol. Und ich weiss, dass mich der Nordpol wegen dem Vorfall mit dem Eisbären in Zukunft stark prägen wird. Aber für einen Moment und trotz den plagenden Fragen für das Wohl des Eisbären, fühle ich jetzt Erleichterung. Ich habe keine Erfrierungen an Händen, Zehen und Gesicht davongetragen, obwohl es mit unter -35°Celsius, tage- und nächtelang sehr kalt war. Ein letztes Mal schlagen wir unser Camp auf dem Eis auf und übernachten am Nordpol.

Am nächsten Tag holt uns der Helikopter fünf Kilometer südlich vom Pol ab. Unser Camp hat sich nachts leise vom Nordpol davongeschlichen…
Für mich geht das alles zu schnell. Eine Stunde Flugzeit später sind wir zurück in Barneo, auf der Russischen Eis-Station und weitere vier Stunden später steigen wir am Hauptort von Spitzbergen, in Longyearbyen aus dem Flugzeug.

Aber die zweite Geschichte fängt erst jetzt an.

Am nächsten Morgen setze ich mich, zurück im Hotel, zu Dixie und spreche den Eisbären-Vorfall erneut an. Wieder bekomme ich von Dixie Distanziertheit zu spüren. Er sagt, und diesen Punkt kann ich selbstverständlich nachvollziehen, dass es seine Aufgabe sei, seine Kunden zu beschützen.
Aber während der Vorbereitungszeit zu meiner Spitzbergen-Etappe vor knapp zwei Monaten, ging ich durch ein tagelanges, intensives Bear-Defense-Training. Ich wurde anfangs März mehrere Tage von diversen Bären-Kennern ausgiebig instruiert, so dass ich sehr vieles darüber lernte, wie ich mein, vor allem aber auch das Leben des Eisbären schützen muss, würde ich von einem Eisbären attackiert. Ich lernte die verschiedenen Schritte kennen, die für die Sicherheit und das Leben des Eisbären und jene des Menschen wichtig sind und ich lernte alle Schritte kennen, die unternommen werden müssen, bevor ich das Recht habe, einen Schuss gezielt auf einen Bären abzufeuern.
Und weil ich für meine Spitzbergen-Etappe vor knapp zwei Monaten diesen ganzen Lernprozess durchgemacht hatte, kann ich heute beurteilen, dass Dixie mit dem voreiligen Entschluss auf den Bären zu schiessen, mindestens drei bis vier Schritte ignoriert hatte. Wäre ihm dies auf Spitzbergen passiert, auf Boden der unter Norwegischem Gesetz steht, hätte er jetzt sehr wahrscheinlich ein grosses Problem und vermutlich einen Prozess am Hals. Da aber das Nordpolar-Meer Internationales Gewässer ist, ist eigentlich niemand für das Leben dieses Eisbären verantwortlich, obwohl die Eisbären nicht nur in Norwegen, sondern auch in Russland gesetzlich geschützt sind. Ich bohre an diesem Morgen keine weiteren Fragen in Dixies Bauch, obwohl mir viele Fragen auf der Zunge brennen. Ich weiss, dass Dixie’s Gewehr nur vier Schüsse laden kann und ich darf aufgrund meiner Beobachtungen davon ausgehen, dass die Mechanik von Dixie’s Gewehr nicht richtig funktioniert. Deswegen bot ich ihm ja vor der Expedition mein Gewehr an, aber Dixie wollte das Angebot nicht annehmen.
Am Frühstückstisch unterlasse ich alle weiteren Fragen. Marin hat sich inzwischen zu unserem Tisch gesellt. Sie ist fröhlich und munter und ich will sie nicht belasten.
Aber als ich von Dixie’s Frau kurz später eine Gratulations-Nachricht auf meinem Computer lese, schicke ich ihr eine Nachricht zurück um sie darüber zu informieren, dass für mich der Nordpol wegen des Eisbären-Vorfalls kein Triumpf sei und ich meine Gefühle zurzeit noch nicht richtig einordnen könne. Ich liess Julie wissen, dass ich das Gespräch mit Dixie mehrere Male gesucht habe und dass er ausweichend reagiere.

Julie antwortet wenig später, dass Dixie zu unserem Schutz so und nicht anders gehandelt habe und dass der Bär alle Sicherheitsschranken durchbrochen habe. Ich stutze.
Welche «Sicherheitsschranken» meint Julie? Um dem Bären signalisieren zu können, dass er bei uns nicht willkommen ist, hätten wir mit der Signalpistole Signalpatronen abfeuern müssen. Wir hatten aber nur eine Signalpistole im Team und Marin trug diese nicht auf ihrem Körper, sondern hatte sie irgendwo in ihrem Schlitten verstaut. In jenem Schlitten, von welchem der Eisbär die Salamistücke stibitzte. Wir konnten dem Bären also keine «Schranken» setzen. Also wäre es wenigstens bei den Warnschüssen geblieben. Mindestens drei bis vier Warnschüsse hätten abgefeuert werden müssen, um diese «Schranken» zu setzen.
Ich ziehe mich in mein Zimmer zurück und suche auf meiner Kamera den Videoklipp mit dem Moment, wo der Eisbär den Schuss abbekommen hatte. Dixie hat bis zu diesem Zeitpunkt immer behauptet, dass dem Tier vor die Pfoten geschossen wurde. Das Video zeigt nun aber, dass sich der Eisbär hinter einem Presseisrücken versteckt hatte und nur sein Kopf, sein Thorax, sein Rücken und Bauch hervor lugten. Der Schuss konnte gar nicht vor oder in die Pfoten geschossen werden.
Ich schreibe Dixie eine SMS und kläre ihn auf. Ich schreibe ihm zusätzlich, dass es mir nicht darum geht, einen Schuldigen zu suchen. Sondern dass es darum geht, die Situation genau zu analysieren und die anderen Polar-Leader über den Vorfall zu informieren, damit man Verbesserungen anstreben und das Leben der Leute und jenes der Bären schützen kann. Ich war Berufs-Helikopterpilotin. Wenn ein Unfall passiert, wird sofort die Flugunfallkommission beauftragt, den Unfall zu untersuchen und dann wird ein Unfallbericht erstellt. In diesen Unfallbericht haben alle Piloten Einsicht, um aus den Fehlern zu lernen und um diese in Zukunft zu vermeiden. Diese Prozedur würde auch hier nicht schaden.
Auf meine SMS bekomme ich von Dixie nur oberflächliche Antworten. Ich gehe ins Restaurant, wo Dixie noch immer sitzt. Vielleicht ist es momentan seine Art oder vielleicht ist es bloss ein Ablenkungsmanöver, als er mir erzählt, wie er Marins Wäsche gewaschen und sogar ihre Unterwäsche fein säuberlich zusammengefaltet habe. Er fügt hinzu, dass ich ja eine Eisbären-Aktivistin werden könne. Für mich ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, mich zurückzuziehen. Ich hatte, so glaube ich, alles versucht, um ein Gespräch zu suchen, um den Bären-Vorfall nochmals durchzugehen. Dixie hat recht. Ich muss aktiv werden.
Zuerst wechsle ich die Unterkunft. An der Rezeption erkundige ich mich nach der Nummer der Polizei. Die Rezeptionistin ist sehr zuvorkommend und ruft gleich persönlich an, gibt mir den Hörer und ich bitte den Polizisten am anderen Ende, mich aufzusuchen. Zwei Stunden später stehen eine Polizistin und ein Polizist in meinem Hotelzimmer. Ich rapportiere den Vorfall und wiederhole, dass es mir nicht darum geht, Schuldige zu suchen, sondern dass es darum geht, diese Geschichte auf den Tisch zu legen um in Zukunft solche Situationen besser meistern zu können. Wir analysieren das Videomaterial zu Dritt. Dixie versucht weiterhin, die Geschichte unter den Teppich zu kehren. In seinem Blog auf seiner Webseite lese ich eine ganz andere Geschichte, als sie sich tatsächlich auf dem Eis zugetragen hatte. Es sind viele Unwahrheiten.
Am nächsten Tag sende ich schriftlich einen ausführlichen Rapport an den Polizeioffizier mit einer Kopie an den Governor von Svalbard. Diese Schritte hätte in meinen Augen zwar Dixie selber unternehme müssen. Später am gleichen Tag treffe ich mich mit dem Präsidenten der IPGA, der Internationalen Polar Guide Associasion, mit Eric Philips und informierte ihn über den genauen Vorfall auf dem Eis mit dem Eisbären und den unternommenen Schritten meinerseits. Eric sagt es richig: “Maybe this is a waking-up call.”
Weiter informiere ich den russischen Arktis-Pionier und Wissenschaftler Dr. Victor Boyarsky von VICAAR, der die Flüge von Spitzbergen zur Russischen Polarstation Barneo koordiniert und selber mehrere Polar-Expeditionen aus sportlichen und aus wissenschaftlichen Ambitionen unternommen hatte.
Und zuletzt schicke ich Dixie eine SMS mit der Frage, warum er in seinem Blog auf seiner Webseite nicht die Wahrheit schreibe.

Ich fühle mich für den Bären verantwortlich. Ich war vor Ort, ich habe es miterlebt. Der Bär ist gegenüber Schusswaffen machtlos und somit das schwächste Glied. «Mein» Eisbär wurde durch den Schuss von Pavel verletzt, der wiederum den Befehl zum Schiessen von Dixie ausführte. Dieser Eisbär steht in meinen Augen heute als Symbol für überstürztes Handeln.

Eisbären brauchen das Eis um nach Robben zu jagen. Wenn das Nordpolarmeer immer mehr abschmilzt, werden Eisbären immer öfter und immer weiter in die Nordpol-Nähe jagen gehen. Zwischenfälle zwischen Bär und Mensch wie diesem, gilt es in Zukunft zu vermeiden.
Jedes Teammitglied sollte neu eine Signalpistole auf sich tragen und diese bedienen können. Zum Vergleich: Tourenskifahrer tragen heute praktisch alle ein Lawinenverschütteten-Suchgerät auf sich, obwohl sie höchstwahrscheinlich nie im Leben in eine Lawine geraten. Und dieses Prinzip muss in Zukunft auf Expeditionen am Nordpol angewendet werden, damit der Bär die Flucht ergreifen kann und sein Leben damit geschützt ist.

PS: Inzwischen wurde das Videomaterial von Dr. med. Milan Cermack überprüft. Dr. Cermack zieht noch keine definitiven Schlüsse, meint aber, dass der Eisbär keine signifikante Orientierungsstörung bei seiner Flucht zeigte, dass Gelenke, Rücken und Hals nach dem Schuss funktionierten. Gemäss seiner momentanen Beurteilung habe der Eisbär gute Überlebenschancen.

PSS: Dixie und seiner Frau Julie habe ich eine offene Tür für Gespräche angeboten. Inzwischen wurde die falsche Berichterstattung im Blog auf ihrer Webseite abgeändert.

Die Arktis ist ein wunderschöner, wenn auch lebensbedrohlicher Ort. Sie ist voller pastellener Farben und birgt viele Geheimnisse. Sie ist voller pragmatischer Schönheit, Rauheit und Kargheit. Es ist faszinierend und hart zugleich, als Mensch in ihre Landschaft einzudringen. Der Mensch kann von der Arktis viel lernen. Es geht also nicht darum, Menschen aus ihr zu verbannen oder Aktivitäten in der Arktis zu verbieten. Es geht aber darum, der Arktis, ihrer Landschaft und ihren Tieren mit Respekt und Verantwortung zu begegnen und wenn Fehler passieren, diese zu korrigieren.

Herzlich, eure Evelyne

Geissholz, 19. April 2017, 23.45 Uhr

Inzwischen wurde mein Videomaterial vom Bärenvorfall von der Polizei in Svalbard (Spitzbergen) und dem Mediziner und Wissenschaftler Dr. Milan Cermack unter Mithilfe eines Bildspezialisten nochmals detailliert und in hoher Auflösung überprüft. Folgende, traurige Nachricht hat mich soeben aus Spitzbergen erreicht:
“Unfortunately, the Polar Bear was hit sideways in the head: He can move, but will most likely be unable to hunt and properly eat – thus, a slow, starving death is almost certain. Therefore, regretfully, I must correct my initial survival estimate. We all agree that there were absolutely no signs of bear’s aggressive behaviour.”
Ich bin zutiefst traurig über diese Nachricht.
Man darf sich zurecht fragen, ob das Facebook nicht der falsche Ort ist, diese Geschichte zu veröffentlichen. Und man darf sich zusätzlich zurecht fragen, was ich damit bezwecken will. Ich will damit den Druck auf die IPGA, die Internationale Polar Guide Association, unter Druck setzen, damit sie ihre Aktivitäten auf dem Nordpolar-Meer überprüft und einen Syllabus erarbeitet, der genaue Regeln im Verhalten mit Begegnungen zwischen Expeditionen und Eisbären enthält.

  1. Die IPGA muss Sicherheitsmassnahmen für das Wohl der Eisbären erarbeiten
  2. Guides müssen auch auf internationalen Gewässern verpflichtet werden, Begegnungen und Interruptionen zwischen Menschen und Eisbären bei der Polizei zu rapportieren.
  3. Es müssen mehr Signalpistolen pro Team handgriffbereit sein.
  4. Teammitglieder müssen Signalpistolen auf ihrem Körper tragen, statt irgendwo im Schlitten verstaut.
  5. Auch Eisbären auf Internationalen Gewässern wie das Nordpolarmeer, sollen geschützt werden. Deswegen müssen
  6. Guides, die ein Verhalten wie das oben Beschriebene an den Tag legen, rechtlich zur Rechenschaft gezogen werden können.

Partnerschaften von Evelyne Binsack