Noch nicht ganz angekommen

Veröffentlicht vor 3006 Tagen

Was macht man nach 23 Tagen unterwegs ohne Dusche und Kleiderwechsel? Richtig: Man geht ins nächste Restaurant und bestellt sich das „all you can eat“ – Menue mit viel einheimischem Fleisch und Fisch. Und was macht man nach 23 Tagen ohne Dusche und Kleiderwechsel nach reichhaltigem Essen mit zwei Glas Rotwein? Richtig: Man geht zurück ins Hotel schlafen. Die Dusche hat bis jetzt so lange warten müssen, jetzt wartet sie halt zusätzlich noch einen Tag. Aber ausser einem Paar frischen U’hosen und Socken habe ich nichts, das ich anziehen könnte, was nicht schon 23 Tage auf meiner Haut geklebt hat. Schliesslich kam ich mit dem Team 600km Geh-Distanz über den 450km langen Eispanzer Grönlands und habe keine Ausgeh-Kleider in meinen Schlitten hinter mir hergeschleppt. Und das Paket mit den frischen Kleidern, welches ich an der Ostküste mit Destination Westküste abgeschickt hatte, hat den Zielort nie erreicht. Das Shoppen in Nuuk ist denn auch eine sehr humorvolle Angelegenheit… Ein Paar frische Jeans, ein T-Shirt. Voilà.

Aber innerlich bin ich noch voll auf Expedition. Morgens beim Erwachen, weiss ich jeweils nicht, wie mir geschieht. Ich möchte den Benzinkocher in Gang setzen und Schnee für Porridge und heisse Getränke schmelzen. Ich möchte meine Expeditionsschuhe anziehen und raus in die bis zu minus 30 Grad Kälte und das einfache Expeditions-Leben mit Start A und Ziel B weiterleben. Mindestens mein vegetatives Nervensystem, auf welches der Wille keinen Zugriff hat, macht das mit mir frühmorgens so. Automatisch. Bis ich realisiere, dass die Expedition bereits erfolgreich zu Ende gegangen ist.

Es ist die Dichotomie des Lebens. Ist man unterwegs, freut man sich auf’s Ankommen. Ist man dem Ziel nahe, möchte man nie ankommen. Die klare Struktur des Expeditionsalltags, speziell in polaren Regionen, ist an Einfachheit nicht zu überbieten. Das Schwierige im hohen Norden ist nicht das Leben. Dieses gestaltet sich als rudimentär einfach. Das Schwierige in polaren Regionen ist nur das Überleben. Deswegen beschränkt sich das Leben auf das Nötigste. Alles Andere wird unwichtig.

Inuit, die Einheimischen im hohen Norden, kennen kein Wort für „Zukunft“. Alles findet im Jetzt statt. Ihr Leben wurzelt tief im Jetzt. Natürlich gibt es für die Inuit ein Morgen. Einen nächsten Tag. Aber Zukunft als Zeitbegriff kennen sie nicht. Und in dieses über Jahrtausende gut funktionierende Volk schiebt sich jetzt die Zivilisation hinein. Einige unter den Inuit finden den guten Mittelweg, mit den neuen, viel komplexeren Strukturen klar zu kommen. Andere schaffen es nicht. Eines von zehn Kindern erlebt das 20. Altersjahr nicht. Es findet die Befreiung im Suizid. Ich werde noch viel mehr über die Inuit und ihr Leben berichten. Aber nicht jetzt. Jetzt ist es für mich Zeit, zu schlafen. Und dann kommt die Zeit, in der ich zu diesem Volk zurückkehre, das im Spagat zwischen Tradition und Zivilisation das Gleichgewicht zu finden sucht.

  • Etappe 1: Fahrradstrecke von der Schweiz bis ans Nordkap 4500km von Mai bis Juli 2016
  • Etappe 2: Zu Fuss Durchquerung des grönländischen Inlandeises 600km auf Ski von Aug. bis Sept. 16
  • Etappe 3: Zu Fuss Durchquerung Spitzbergen 200-400km auf Ski im März 2017
  • Etappe 4: Zu Fuss von russischer Eisstation bis Nordpol und zurück 200-400 km im April 2017