Meine Schwester und ich waren schon als Kinder unterschiedlicher Natur. Während ich ein „Zappelphilipp» war, am liebsten draussen am Verstecken spielen, in Bergbächen am Lehmhöhlen bauen oder das Ungewisse in Kinderstreichen am Herausfordern, steckte meine Schwester Jacqueline ihre Energie lieber ins Lesen von Büchern. Ich erinnere mich, in welchem für mich frustrierenden Tempo sie fähig war, Texte zu lesen. Wenn wir mal zusammen die Köpfe über einen Artikel streckten, hatte ich erst gerade den ersten Abschnitt geschafft, sie die ganze Seite. Nein, lesen wurde nie zu meinem Hobby…
Jacqueline war nicht älter als elf oder zwölf, als sie «Die weisse Spinne» von Heinrich Harrer verschlang. Sie lebte regelrecht die Tragödien mit, die sich vor, während und nach der Erstbesteigung der Eiger Nordwand, diesem mörderischen Moloch, abspielten. Sie stellte sich die Kälte vor, die düstere, graue Wand, Fels und Eis und Schnee und Steinschlag und die Männer, die Helden und die von der Wand Besiegten, die Toten, das Jammern, das Winseln, das Elend. Dieses Buch prägte meine Schwester. Sie wurde nie Alpinistin. Aus Überzeugung.
Circa 11 Jahre später
Es ist der 2. Januar 1990. Ich bin 22 Jahre alt, Bergführeraspirantin und Skilehrerin in Engelberg. Ein schlechter Winteranfang, kein Schnee, keine Gäste, keine Arbeit. Gerade wurde uns an der Skilehrer- Teamsitzung mitgeteilt, dass nur die Stamm-Skilehrer die wenige Arbeit bekämen, die es gibt. Die Väter, die ihre Familien zu ernähren haben, die das Geld dringender bräuchten, als wir jungen.
Ich schaue meinen Skilehrer-Kollegen Ruedi, der neben mir sitzt, von der Seite an. Ich kenne ihn nicht sehr gut, wir arbeiten seit ein, zwei Jahren in der gleichen Skischule und ich weiss von ihm eigentlich nur, dass er gut Ski fährt und klettert. Wir waren nie zusammen am Seil. Aber er ist ein netter Kerl und sein Ruf als Bergsteiger ist gut. Ich lehne mich von meinem Stuhl zu Ruedi hinüber und flüstere ihm ins Ohr:
«Jetzt müsste man «sie» besteigen. Wenig Schnee, kalte Verhältnisse, kein Steinschlag.»
Ruedi sagt: «Genau das habe ich soeben auch gedacht.» Ohne das Wort «Eiger Nordwand» in den Mund zu nehmen.
Ich frage: «Wollen wir «sie» durchsteigen? Bist du dabei?»
Ruedi: «Ja.»
Wir schauen uns an und grinsen, als ob wir soeben einen verborgenen Schatz ausgegraben hätten.
«Ich kann aber erst übermorgen. Morgen feiert mein Vater Geburtstag und da muss ich dabei sein.»
Wir verabreden uns, am 4. Januar nach Grindelwald und weiter über die Kleine Scheidegg zur Station «Eigergletscher» zu fahren. Der Ausgangspunkt für die Nordwand-Durchsteigung.
Am 3. Januar sitze ich am hübsch gedeckten Tisch, meine Mutter hat etwas Feines zu Abend gekocht und wir feiern den 57. Geburtstag meines Vaters. Er fragt nach meiner Arbeit. Ich weiss, dass er es nicht so toll findet, dass ich mein Geld im Winter als Skilehrerin verdiene. Er stellt sich darunter (ähnlich wie das Klischee von Tennis- und Surflehrern) ein unseriöses Gesindel vor. Aber seit ich vor knapp einem halben Jahr die Prüfungen zur Bergführer-Aspirantin erfolgreich bestanden hatte, zeigt er mehr Stolz für meine berufliche Sonderentwicklung.
Er fragt, was ich denn jetzt so machen würde, wenn es keine Arbeit gibt?
«Ich gehe morgen auf die Kleine Scheidegg“, sage ich.
«Was tust du dort?“
«Schauen.»
«Was schauen?»
«Einfach ein bisschen schauen.»
Mein Vater jetzt herausfordernd: «Willst du in die Eiger Nordwand?!»
Ich: «Ähm, ja, das heisst, wenn die Verhältnisse es zulassen.»
Jetzt schaltet sich meine Schwester ins Gespräch ein, die sich bis jetzt still verhalten hatte.
«Spinnst du? Hast du „Die weisse Spinne» gelesen?!»
«Nein, ich habe «Die weisse Spinne» nicht gelesen und vielleicht ist es besser so.»
In den nächsten zwei Tagen erlebe ich, was es heisst, im Winter, bei -17°C, durch die Eiger Nordwand zu klettern. «Die weisse Spinne», der wohl berühmteste, 300 Meter lange und steile Eisschild in der Wand, nicht das Buch, ist übrigens Erholung im Vergleich zum Rest der 1800 Meter hohen Nordwand mit ihren fast vier Kilometern Kletterstrecke.
Ruedi und ich sind jung. Sehr jung. Und sehr entschlossen. Die Eiger Nordwand hat aber unser ganzes Kletterkönnen abverlangt. Nach einem eisigen Biwak in der «Rampe» und einer weiteren, bitterkalten Biwaknacht auf dem Gipfel, steigen wir am dritten Tag über die Westflanke zur Kleinen Scheidegg zurück. Völlig ausgepumpt. Völlig erschöpft. Voll hungrig. Voll durstig. Voll glücklich.
Vier Jahre später glückt mir die Solo-Durchsteigung der Eiger-Nordostwand.
Neun Jahre nach der Winterdurchsteigung klettere ich die Eiger-Nordwand nochmals, diesmal mit drei Bergführer-Kollegen für die Übertragung des Schweizer und Deutschen Fernsehens.
Der Dokumentarfilm gewinnt 1999 den Schweizer Filmpreis.