90° North – 100% Commitment: Die ersten 1300km Richtung Nordpol

Veröffentlicht vor 3124 Tagen

Blog 2, 07. Juni 2016,

Die Packtaschen auf’s Velo laden und losfahren: Die Tage haben ihren einfachen Ablauf. Früh aufstehen, frühstücken und von morgens bis abends im Sattel sitzen, in die Pedale treten, treten, bereits zwei Wochen lang.

Die Landschaft durch Deutschland ist schöner als erwartet, die Strecke durch die ersten 1300 Kilometer härter als gedacht. Zwar bin ich immer zwei Tage schneller unterwegs als die Unwetter, die sich mir bereits am dritten Reisetag an den Rücken heften. Ich fühle mich wie ein verfolgtes Tier auf der Treibjagd. Ich flüchte vor den immensen Regengüssen, werde von ihnen eingeholt, flüchte erneut und werde Zeugin von den immer höher anschwellenden Flüssen, die südlich von mir über die Ufer treten und Dörfer verwüsten und Menschen töten werden.

Lawinengefahr im Winter in den Bergen? Logisch, damit ist man als Alpinist und Berufsbergführerin dauernd konfrontiert, auch mit den drastischen Wetterwechseln im Sommer auf Gletschertouren, im Eis und an Felswänden. Ich darf für mich beanspruchen, mit dieser Problematik aufgewachsen und vertraut zu sein. Die Natur in den Bergen ist zwar gefährlich und bedrohlich, aber die Gefahren erwarte ich, sind Teil des Alltags, keine Überraschungen. Mein Feingespür ist dafür ausgerichtet, im richtigen Moment die richtige Entscheidung zu treffen. Dass ich auf «90°North – 100% Commitment» auf der einfachsten Strecke der Reise-Expedition zum Nordpol bereits am dritten Tag in derartige Wetterverhältnisse gerate, damit habe ich dann doch nicht gerechnet.

Natürlich weiss ich, dass durch die Klima-Veränderung, die leider tatsächlich durch den Menschen mitverursacht wird, der Jetstream abgebremst wird.

(Jetstream = Windzirkulation auf 8000 bis 12’000 Metern Höhe mit bis zu 500 Stundenkilometern Windgeschwindigkeit)

Wenn der Jetstream verlangsamt wird, wird quasi das Wetter «gestaut», wie Autos auf der Autobahn vor einer Baustelle. Und wenn das Wetter «staut», dann bleibt es einfach länger dort sitzen, wo es gerade ist. Dadurch gibt es zwar längere Schönwetterphasen, aber eben auch längere Schlechtwetterphasen. Das bedeutet langanhaltende, verheerende Dürren in den einen Teilen unserer Welt und langanhaltende, verheerende Niederschläge in anderen Teilen unserer Welt.

Nicht nur der Wind, auch das Wasser spielt verrückt. Die grosse Umwälzströmung im Atlantik, die sogenannte Atlantik Meridional Overtuning Circulation (AMOC) hat sich im 20. Jahrhundert deutlich abgeschwächt. Der Golfstrom ist Teil dieser Umwälzströmung.

Sogar meine Nordpolexpedition hat sich wegen der Klima-Veränderung während der letzten Vorbereitungsjahre dauernd verändert. Zuerst war noch die Idee, den Nordpol vom letzten Festland aus zu erreichen. Doch es ist mittlerweile keine Seltenheit, dass das Meer im Winter in Landnähe gar nicht mehr gefriert oder die Eisdecke zu dünn ist. «Ken Boreck Air» eine kanadische Fluggesellschaft,  hat deswegen sämtliche Aktivitäten auf der Nordpolarmeer-Eiskappe eingestellt, weil ihr bei der Landung auf dem arktischen Meereispanzer fast zwei Flugzeuge mit Piloten und Crew abgesoffen sind. Für Expeditionen zum Nordpol von der kanadischen Festlandseite, bedeutet das, dass die einzig mögliche Rettung bei Problemen nicht mehr verfügbar ist. Ken Boreck Air war für die Expeditionen von 1970 bis 2014 die letzte Hoffnung, wenn alle Stricke auf dem Eis gerissen waren und dringende Hilfe benötigt wurde.

Natürlich mache ich mir Sorgen um unseren Globus. Aber die unmittelbaren, pragmatischen Fragen richten sich auf’s Hier und Jetzt: Welche Strecke soll ich auf meiner ersten Etappe Richtung Nordpol unter meine Fahrradräder nehmen? Wo finde ich etwas zu essen, wo ist trinkbares Wasser? Wie trockne ich das durchnässte Zelt, wenn es weiterhin regnet? Wie schlafe ich im durchnässten Schlafsack? Wie erkälte ich mich nicht in diesen Wetterbedingungen? Es sind die immer gleichen Fragen, die ich mir trotzdem jeden Tag neu stelle. Aber vielleicht kommt ja bald die Schönwetter-Stau-Phase…

Herzlich von unterwegs, eure Evelyne

  • Etappe 1: Fahrradstrecke von der Schweiz bis ans Nordkap 4500km von Mai bis Juli 2016
  • Etappe 2: Zu Fuss Durchquerung des grönländischen Inlandeises 600km auf Ski von Aug. bis Sept. 16
  • Etappe 3: Zu Fuss Durchquerung Spitzbergen 200-400km auf Ski im März 2017
  • Etappe 4: Zu Fuss von russischer Eisstation bis Nordpol und zurück 200-400 km im April 2017