«90° North – 100% Commitment» : Longyearbyen, 6. März 2017

Veröffentlicht vor 2849 Tagen

Dritte und letzte Etappe zum Nordpol.

Eine Einzelleistung ist immer Teamwork. Wie froh war ich schon am Tag meiner Abreise, mit meinen 106kg Ausrüstung zum Flughafen in Zürich begleitet zu werden. Danke Dimitri! Am Flughafen traf ich auf engagiertes Personal, angefangen bei den drei Damen beim Check-in, die anfänglich etwas herausgefordert, dann aber speditiv das Gepäck und Übergepäck abfertigten und mich wegen den Verteidigungswaffen zu den entsprechenden Verantwortlichen wiesen, welche sich für die Tests und Überprüfungen wiederum für ein reibungsloses Prozedere engagierten. Ein Dank geht auch an den Reiseprofi Kontiki mit Jan, der die Flughafenverantwortlichen über mein Erscheinen vorgewarnt hatte und entsprechend alles in den Dokumenten vermerkt war. Ohne ihn sässe ich vielleicht jetzt ohne Expeditionsmaterial im hohen Norden.
Ich bin also gut in Longyeabyen auf Spitzbergen angekommen. Hier fühle ich mich nicht nur wie, sondern ich bin ein «newcomer». Spitzbergen ist der Sammelbegriff mehrerer grösserer und kleinerer Inseln nördlich des Polarkreises, die im Westen bis in die Grönlandsee, im Norden in das Nordpolarmeer, im Osten in die Barentsee und im Süden ins Europäische Nordmeer anstossen.
Wer sich mit der Geschichte von Spitzbergen befasst, ist verblüfft, wie sich auf den unscheinbaren Inseln eine Ausbeutungsaktion nach der anderen ablöst. Zwischen dem 18. – 19. Jahrhundert wurden hier so viele Wale ermordet, dass sich der Bestand bis heute nicht erholt hat. Als die Anzahl der Wale wegen der aggressiven Jagd, hauptsächlich durch Holländer, Franzosen und Engländer, drastisch zurückging, wurde auf der offenen See der Fischbestand reduziert. Dann ging die Ausbeute weiter, dehnte sich auf Eisbären, Robben und Walrosse aus. Später jagte man nicht mehr nur Tiere, sondern machte leichte Beute mit der leicht abbaubaren Kohle. Weil Spitzbergen Niemandsland war, konnte jeder tun und lassen, wie es ihm gefiel, bis sich die Übergriffe häuften und 1920 im Spitzbergenvertrag mündeten, der die Gebietsansprüche formell regelt und Norwegen die Souveränität von Svalbard übertragen wurde.
Ausserhalb vom bewohnten Gebiet ist der Eisbär zuhause. Es ist zum Glück nicht mehr erlaubt, die Eisbären zu jagen. Man darf sie aber auch nicht für Fotos aufstöbern oder sie in ihren Lebensgewohnheiten stören. Ich bin eine der wenigen Touristen auf Spitzbergen, die weder Eisbären noch deren Spuren sichten möchte. Denn das heisst für mich absolute Gefahr. Um mich zu schützen, lerne ich zurzeit, wie ich nachts mein Zelt mit entmunitionierter Munition einzäunen muss, dass wenn sich ein Eisbär an mein Zelt heranmachen will und in den Zaun läuft, die Geschosse zwar losgehen, aber nur Krach auslösen doch keine Schüsse abgehen. Im Trockenen habe ich das nun schon mal geübt. Ich hoffe, ich stolpere nicht selber in den Zaun, zum Beispiel, wenn ich morgens dringend «das Morgengeschäft» erledigen muss…
Noch bin ich mir über die genaue Route in den Norden von Spitzbergen nicht einig. Die zweite Gefahr geht von Gletscherspalten aus und es wird schwierig werden, eine sichere, möglichst spaltenfreie Route über die zahlreichen Gletscher zu finden. Es ist Teil meiner Aufgabe in den nächsten Tagen, hier im Gespräch mit den Locals die für mich sicherste Lösung zu finden. Und gleichzeitig muss ich die Tages-Essensrationen abwägen. Jede einzelne Kalorie, die ich essen werde, wird zuerst durch meine Hände ausgepackt, gewägt, ergänzt, neu eingepackt und verstaut.
Und bei allen diesen Aufgaben lasse ich mein Training nicht einfach links liegen. Ich mache zwar nur kurze Lauf- und Krafttrainings, um nicht zu viel Energie zu verbraten, aber um den Körper «bei Laune» zu halten. Der Körper, der nicht trainiert wird, staut Energie auf. Wird diese Energie nicht in Form von körperlicher Betätigung abgebaut und umgewandelt, geht der Körper eine Art in Schlafmodus, wird paradoxerweise träge und faul. Das wäre dann jener Moment, in welchem man mir besser nicht zu nahe tritt…
So, genug für heute. Ich melde mich nochmals ein- oder zweimal bevor es losgeht. Und dann melde ich mich (leider) nur noch in kurzen Texten über das Satellitentelefon.

Herzlich eure Evelyne, Longyearbyen, 6. März 2017 (Copyright Text und Bilder: Evelyne Binsack)