«90° North – 100% Commitment» oder «Mein dritter und letzter Pol.»
Nach dem Gipfel des Mount Everest und der 484 Tage-Expedition zum Südpol, nun also doch: Der Nordpol.
«Mein dritter Pol» ist gleichzeitig auch der dritte Pol in der Geschichte der Abenteurer. Der südlichste Punkt der Welt, der Südpol, wurde erstmals durch den Norweger Roald Amundsen im Dezember 1911 betreten. Auf dem höchsten Pol der Welt, dem Gipfel des Mount Everest, standen der Nepalese Sherpa Tenzing Norgay und der Neuseeländer Edmund Hillary im Mai 1953 als erste. Aber wer tatsächlich als erster Mensch und aus eigener Muskelkraft den Nordpol auf 90° nördlicher Breite, da wo sich alle Längsgrade treffen, erreicht hat, ist bis heute nicht gewiss. Der Amerikaner Robert Edwin Peary proklamiert den Sieg für sich. Aber dass er als erster Mensch im April 1909 am Nordpol stand, wird ihm aus berechtigten Gründen bis heute angezweifelt. Der erste Mensch, der den Nordpol nachweislich und mit natürlichen Mitteln auf dem Weg über das Eis erreichte, ist der Brite Sir Walter William Herbert, mit Hundeschlitten, im Jahr 1969.
Lange habe ich gar nicht mehr daran geglaubt, dass ich nochmals diese zwingende mentale Kraft und die geistige Stärke, die es braucht, einfangen und verdichten kann, um die Bereitschaft für ein Abenteuer von diesem Format abermals generieren zu können. Physisch bin ich, bei täglichen Trainingseinheiten zwischen 1 bis 5 Stunden am Tag und dies seit über 30 Jahren, parat.
Aber ein Unfall mit Hirnverletzung drei Jahre nach meiner erfolgreichen Südpol-Expedition und weitere drei Jahre später die Trennung meines Lebenspartners, haben mir sehr viel Energie geraubt. Und trotzdem hat sich der Nordpol nie ganz aus meinen Gedanken verabschiedet. Jetzt, weitere drei Jahre später und auf den Tag drei Monate nach dem Tod meiner Mutter, werde ich das letzte Mal zuhause in meinem eigenen Bett schlafen, ehe es wirklich ans Eingemachte, auf die Solo-Expedition zum Nordpol, geht. Die Zahl Drei scheint irgendwie meine Schicksalszahl geworden zu sein.
Die Vorbereitungen für die Nordpolexpedition sind quasi eine Expedition für sich. Es gibt nicht viel, das man delegieren kann, alles ist individuell, fordernd. Sei es die Spezialausrüstung die es braucht, die man aber in der Schweiz gar nicht findet und man deswegen in verschiedene Länder reist, um sie zu sammeln. Sei es das Organisieren der Spezialnahrung, die im Schlitten mitgeführt wird und rund 6000 bis 7000 Kalorien pro Tag, während sechs Wochen, abdecken muss. Die Anfertigung eines guten Koch-Brennersystems, damit man das eigene Zelt, beim Vorwärmprozess des Benzinkochers, nicht schon am ersten Tag abfackelt. Das Umbauen der Skier und der Bindung auf eigene Bedürfnisse, damit sich die Achillessehne unter der Zuglast des 100kg-Schlittens nicht bereits nach 5 Tagen entzündet oder schlimmer noch, abreisst. Das Abändern des Zeltes, damit es im Sturm nicht in einzelne Stofffetzen zerreisst und in Stücken davonweht. Die Beschaffung und die Handhabung der Schusswaffen für die Selbstverteidigung vor Bären und das Einholen aller Bewilligungen, die von Spitzbergen, dem Ausgangspunkt der Expedition, vorgeschrieben werden. Von Versicherungsvorschriften, Gebühren, von der Anschaffung von Kommunikationsgeräten wie Satellitentelefon und Emergency Beacons, von tauglicher Foto- und Filmausrüstung, die den Geist bis minus 55 Grad Celsius nicht aufgibt, von Solargeräten zum Füttern der Akkus und der Batterien, vom Organisieren der Flüge und den Bewilligungen wegen des Waffentransports und Übergepäcks, ist noch nicht einmal ein Wort gesprochen worden. Und vom Back-Office, welches organisiert werden und der Homepage, die in die Betreuung Dritter gelangen muss, auch nicht.
Kein Wunder also, wenn ich während dieser Vorbereitungszeit mitten in der Nacht im Bett aufschrecke und ans Weiterschlafen gar nicht mehr zu denken ist. Der Hypothalamus im Gehirn pumpt sofort Adrenalin ins Blut, ungeachtet der Tages-, oder besser gesagt, der Schlafenszeit. Ich bin sofort hellwach, und die Gedanken fangen ungefragt an zu scannen, was noch alles erledigt werden sollte, welche Probleme noch im Weg stehen und was man alles vergessen haben könnte. Ich habe mir angewöhnt, mich gar nicht erst zum Weiterschlafen zu zwingen, denn das raubt nur noch mehr Energie. Lieber fange ich zu arbeiten an, anstatt mich im Bett zu wälzen, auch wenn es morgens um 02.00 Uhr ist. Um zu denken, um zu organisieren, aufzulisten und zu packen.
Braunviolettgraue Ränder unter den Augen und eine relativ dünne Haut, sind Begleiterscheinungen einer Nordpolexpedition, noch bevor sie überhaupt begonnen hat.
Etappen und Strecke:
Nach den ersten zwei anstrengenden, aber wunderschönen Etappen im 2016, den rund 5000 Kilometern auf dem Tourenvelo von vor meiner Haustür bis ans Nordkap, gefolgt vom 580 Kilometer Marsch auf Ski, mit Schlitten quer durch Grönland, startet nun bald die dritte und letzte, die Königsetappe, am 4. März 2017. Von Longyearbyen auf Spitzbergen geht es zu Fuss mit Ski und Schlitten im Alleingang bis zum nördlichsten Punkt der Arktis-Insel. Danach folgt der Weitermarsch mit Ski und Schlitten über das gefrorene Nordpolarmeer von südlich der Russischen Forschungsstation Barneo zum Nordpol und zurück zur Forschungsstation. Ich kann mir den Rücktransport per Helikopter vom Nordpol nicht leisten. Die Expeditionskosten trage ich zu 80% selber und auch ohne Rückflug vom Pol, bedeutet das eine sechsstellige Summe. Also gehe ich zu Fuss. Es sei denn, das Eis auf dem Nordpolarmeer ist derart schlecht zugefroren, dass das Risiko zu gross ist.
Der Nordpol. Mein dritter Pol. Die Gefahren sind mir bewusst. Zirka 500 Kilometer in Temperaturen bis zu -55°C, Schneestürme, Gletscherspalten, Whiteout, Einsamkeit und Eisbären auf Spitzbergen. Auf dem Nordpolarmeer, weit weg vom Festland, lauert zusätzlich die Gefahr des durch die Drift auseinanderbrechenden Eises, die Wasserspalten, die Leads und das 4000 Meter tiefe, eiskalte Nichts des Polarmeeres unter der Eisdecke. Ob sich an meinem dritten Pol die Schicksalszahl Drei mit mir aussöhnen will und wird? Die Nordpol-Expedition fordert wiederum vollen Einsatz und ich werde alles geben, was ich geben kann. Ausgenommen mein Leben.
Herzlich, Evelyne
Grosser Dank geht namentlich an die Ausrüster «ADIDAS» mit Denise Brunschwiler und an «TRANSA» mit Ruedi Thomi und Berater René Kämmerer. An die Sponsoren «Chilifeet» mit Roland Brüniger und die «Kestenholz-Group» mit Stephan Kestenholz. An meinen IT-Partner und Webseiten-Betreuer «Jungfrau Informatik» mit Daniel Koch. An die Unterstützung durch Hans Ambühl von «Visual Impact». An den Reiseexperten «Kontiki» mit Christine Rhomberg, Andreas Minder und Jan Gelpke. An die Satellitentelefon-Spezialistin «FS Communication» mit Valentin Fontana und an «Ast-Space» mit Logistiker Dr. Milan Cermack sowie an Marcel Guinand für das Backoffice. Und ein Dank geht an «Premium Speakers» mit Oliver und Lara Stoldt für die geplante Zusammenarbeit nach der Expedition und alle, die mich medial, mental, emotional und freundschaftlich durch die Nordpol-Expedition begleiten werden.
Geissholz, Februar 2017