«90° North – 100% Commitment» : Spitzbergen, 17. März 2017 Etappe 3 von 4

Veröffentlicht vor 2841 Tagen

Sturm, Whiteout, Kälte, Schnee. Forfait auf Spitzbergen.
Konzentration auf Nordpol.

Den nördlichsten Punkt von Spitzbergen im März zu erreichen ist eine arktische Winterexpedition. Sie ist ernsthaft und kann, wie alle Unternehmungen in diesen Kälteregionen, fatal enden.

Das Wetter am Start-Tag ist eiskalt aber wunderschön.
Allerdings kündigen die Wettervorhersagen bereits für die erste Nacht einen Wetterwechsel an. Und verschiedene Langzeit-Prognosen sind sich einig: Schlechtes Wetter während der nächsten 14 Tage. Nur in Kälte, Windstärken und Schneefallmengen zeigen sich Abweichungen.
Mit den schlechten Wettervoraussetzungen konfrontiert, spielte ich vor dem Start alle Varianten im Kopf durch: Anstatt wie geplant von Süden nach Norden zu starten, hielt ich mir die Option von Anfang an offen, die Geschichte auf den Kopf zu stellen und die Durchquerung von Norden nach Süden anzupacken. Während des Transports nach Norden hätte ich mir wenigstens ein Bild über die mir unbekannte Topografie der Täler, der Gletscher und der Nunataks (Bergspitzen, die wie Toblerone-Stücke aus dem Gletscher ragen) machen können: Der Vorteil wäre auf der Hand gelegen: Ich hätte mir die Schlüsselstellen und Spaltenzonen auf den Gletschern als Fotokopie in mein Gehirn scannen und zusätzlich diese heiklen Zonen in die Karten eintragen und in meinem GPS abspeichern können. So hätte ich bei diffusem Licht und White-Out, bei welchem man wegen Wolken, Nebel und Schneetreiben auf der Schneeoberfläche keine Konturen mehr sieht, wenigstens das Risiko eines möglichen Gletscherspaltensturzes minimieren können. Bei weiterer Überprüfung der Wetterdaten wurde mir aber relativ schnell klar, dass beide Optionen, sowohl die Süd-Nord-, als auch die Nord-Süd-Durchquerung, mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht durchführbar sein wird. Ich behielt meine Zweifel für mich und wollte nicht schon zu Beginn schwarzmalen.
Ich entschied ich mich für die ursprüngliche Süd-Nord-Variante. Nicht zuletzt, weil es psychisch weniger belastend ist, sich bei schlechtem Wetter von einem sicheren Ort (Longyearbyen) wegzubewegen, anstatt sich im Juhee der Arktis und fern von möglichen Notlösungen, absetzen zu lassen. Zudem befindet sich meine Lebensversicherung in Longyearbyen: Mein langjähriger, guter Freund und Vertrauensarzt Dr. Milan Cermack weilt in Spitzbergen. Einerseits um mich logistisch zu unterstützen und andererseits, weil Milan diverse Forschungsarbeiten im Bereich der Geomagnetik in der kanadischen, russischen und norwegischen Arktis unterstützt und auch mit den Forschern in Longyearbyen in engem Austausch steht. Milan und ich haben vereinbart, dass ich jeweils morgens um 07.00h per Satellitentelefon meine genaue Position durchgeben werde und er mich mit den neuesten Wetterdaten versorgen wird.
Um mir den Start zu erleichtern, begleitete mich Milan am ersten Tag ein Stück in die arktische Wildnis und kehrte am Nachmittag in die Zivilisation zurück.

Jetzt bin ich auf mich alleine gestellt. Der Schlitten, den ich hinter mir herziehe und in den ich alles gepackt habe, was ich für zwei Wochen zum Überleben in der Arktis brauche, ist schwerer als erwartet. Obwohl ich nur bei mir habe, was ich voraussichtlich wirklich brauchen werde, wiegt er rund 100kg. Kurz vor dem Eindunkeln stelle ich mein erstes Camp auf, zäune es mit dem Eisbären-Warnsystem ein, schmelze Schnee auf dem Kocher und gönne mir das zuvor dehydrierte und jetzt mit kochendem Schneewasser übergossene Abendessen. Danach schlüpfe ich in den Schlafsack. Die Temperaturen fallen nachts unter minus 25 Grad und bevor ich in einen traumreichen Schlaf falle, justiere ich das Frösteln im Schlafsack. Ich schäle mich aus der Tüte, ziehe mir zwei Kleidungsstücke zusätzlich über und schlüpfe zurück in den Schlafsack. Jetzt ist es endlich wohlig warm.

Von hier weg wird die Geschichte von Tag zu Tag zunehmend komplexer. Das schlechte Wetter zieht nachts wie angekündigt auf. Noch hält sich der Sturm fern, aber nicht mehr lange. Das arktische Wetter verschont mich zum Glück vor einer Frontalkonfrontation und nimmt mich nur nach und nach in den Zangengriff. Am nächsten Morgen sehe ich keine Konturen im Schnee, die Sicht ist gleich null und das Vorwärtskommen ist anstrengend. Der Neuschnee, den es nachts geflockt hat, bremst den schweren Zugschlitten. Während die Temperaturen in den nächsten Tagen kontinuierlich sinken nimmt der Wind progressiv zu. Trotz Neuschnee ist die Gesamtschneemenge nur 20 cm hoch. Unter dieser Schneeschicht liegt das blanke Eis. Um abends das Zelt aufzustellen und es gegen Wind oder Sturm sichern zu können, sind die Schneeheringe bei diesen Schneeverhältnissen für eine Verankerung nicht zu gebrauchen. Wenigstens habe ich drei Eisschrauben bei mir, mit denen ich das Zelt auf der windzugewandten Seite sichern kann. Der Rest ist harte Arbeit. Das Zelt muss mit Schnee befestigt werden, mit Schnee, der in sich haltlos ist wie Mehl. Ich schaufle Schneeberge um mein Zelt und baue zusätzlich grosse Schneehügel, um meine Skis als Verankerung benutzen zu können. Die Stangen, die eigentlich für das Eisbären-Warnsystem vorgesehen sind, werden fremdbenutzt und dienen jetzt ebenfalls als Befestigung für das Zelt. Somit sind sie nicht mehr für ihren richtigen Zweck verfügbar und bieten keinen Schutz. Mir ist bewusst, dass sich die unglücklichen Umstände kumulieren und mit ihnen sich die Risikofaktoren zunehmend steigern. Am fünften Tag bekomme ich am frühen Morgen von Milan über Satellit die Warnung, dass sich über Dickson-Land, westlich von mir, ein Sturm zusammenbrauen und zwei Tage anhalten wird. Die Temperaturen von -25 Grad Celsius werden auf einen Windchill von bis zu -38 Grad Celsius absinken. Das Wetter wird sich auch auf weitere Sicht hinaus nicht bessern. Obwohl erst einige Tage unterwegs befinde ich mich bereits weit weg von normal. Mir ist klar, dass ich den Norden von Spitzbergen unter diesen Umständen und Wetterverhältnissen nicht erreichen werde. Der klare Verstand, dass es zwecklos ist noch weitere Tage in diesen Extrembedingungen zu verweilen, vermischt sich mit dem Stolz, nicht scheitern zu wollen. Nach insgesamt elf Tagen auf Spitzbergen und fünf Tagen auf dem Eis, entscheide ich mich aufgrund der schlechten Verhältnisse und den schlechten Aussichten, für den Rückzug. Nach knapp einer Woche in immer stärker werdendem Wind baue ich mein letztes Camp ab. Die Etappe 3 ist damit nicht vollendet, aber beendet.

Natürlich hätte ich die dritte Etappe gerne wie geplant durchgeführt. Ich habe, wie schon bei Etappe 1 und 2, hart an ihr gearbeitet. Habe den Fokus eingestellt. Den Willen entwickelt. Ich bin aufgebrochen. Habe die Komfortzone und alles, was mir lieb und wert ist, verlassen. Ich habe mich angestrengt, meine Kräfte eingesetzt und viel Geld investiert. Und dann sieht man ein: Die Wetterverhältnisse zwingen einen in die Knie, lassen ein Durchkommen durchs Eis nicht zu. Jetzt ist es ein innerer Kampf, den Stolz fallen zu lassen, Demut zu üben. Der Entscheid für den Rückzug, ist ein Entscheid gegen den Willen, ein Vernunftentscheid, der lebensverlängernde Auswirkungen haben könnte.

«90° North – 100% Commitment» ist damit nicht beendet. Ich richte jetzt den Fokus bereits nach vorne, auf die vierte und letzte Etappe: Den Nordpol.

5000km auf dem Tourenvelo von der Schweiz bis ans Nordkap und ca. 550km auf Skiern quer durchs Grönlandeis sind bewältigt. Gefolgt vom Rückzug auf Spitzbergen.
Ab 1. April starte ich zur letzten Etappe, von südlich der Russischen Station Barneo bis zum Nordpol.
Die Zwischenzeit von jetzt bis zum Aufbruch am 1. April zum Nordpol werde ich nicht auf Spitzbergen aussitzen. Ich komme für Materialwartung und für eine kurze Verschnaufpause zurück in die Schweiz.

Der Unterbruch tut mir leid. Die Verhältnisse lassen die Umsetzung der dritten Etappe auf Spitzbergen leider nicht zu.
Ich hoffe, ihr unterstützt mich trotzdem mit guten Gedanken auf der vierten und letzten Etappe zum Nordpol.

Dies sei angefügt:

Natürlich bin ich mir bewusst, dass ich auf der Welt nichts zum Besseren verändere, wenn ich meinen Traum, alle drei Pole der Welt (Everest, Südpol, Nordpol) zu Fuss zu erreichen, vollenden kann. Auch wenn mir dieses Ziel Ende April als erster Schweizerin gelingen könnte, gebe ich meinen Kritikern recht: Ja, verglichen mit anderen Leistungen an den Polen, seien es die Leistungen der Pioniere naturwissenschaftlicher Expeditionen aus dem 18. und 19. Jahrhundert oder seien es sportliche Pionierleistungen aus jüngerer Zeit, ist meine Leistung relativ. Und doch bedeutet mir das Ziel, das Erreichen der drei Pole, persönlich sehr viel. Und es bedeutet mir noch mehr, wenn ich meine Erlebnisse und Erfahrungen mit anderen Menschen in Vorträgen oder auch in Form dieses Blogs, teilen darf.
Als Teenager hatte ich keine Pläne, keine Visionen, keine beruflichen Ambitionen. Ich hatte keine Ahnung, in welche Richtung ich gehen sollte, denn sonderlich talentiert war ich nirgends, ausser, dass ich überdurchschnittlich ausdauernd schnell rennen konnte. Ein Feuer loderte aber seit Kindsbeinen in meinem Blut: Der Drang nach frischer Luft, die Freude an körperlicher Bewegung und die Liebe zur Natur und zum Abenteuer. Doch alle sagten, «davon kannst du nicht leben.» Ja, selber Fussstapfen zu setzen und Fussspuren zu hinterlassen, bedeutet, dass man nicht die ausgetretenen Pfade wählt. Dies ist anstrengend und kann eher schiefgehen. Aber das wohl Wichtigste, was mich meine Abenteuer lehrten und abgesehen von den vielen Nächten des stillen Zweifelns:
Es gibt immer einen Weg.

Herzlich, eure Evelyne