Interview mit ceo Magazin
Extrem sind die Expeditionen, die Evelyne Binsack seit vielen Jahren unternimmt. Und extrem ist auch das Selbstvertrauen der gebürtigen Hergiswilerin: Sie weiss genau, was sie will und was sie tut.
Evelyne Binsack, Sie werden oft als Abenteurerin, Grenzgängerin, Extremsportlerin oder auch Pionierin bezeichnet.
Welcher Begriff gefällt Ihnen am besten?
Alle Begriffe gehören zu mir, aber keiner der Begriffe beschreibt mich als Ganzes.
Sie machten eine Lehre als Sportartikelverkäuferin.
Weshalb verliessen Sie dieses solide Umfeld?
Die Lehre in Engelberg machte ich eigentlich nur, um für die Sportschule in Magglingen zugelassen zu werden.
Dann kam alles anders als geplant.
Dabei habe ich mich als Teenager immer davor gedrückt, mit den Eltern wandern zu gehen!
Schwer zu glauben …
… aber wahr. Ich habe sogar einmal Seife gegessen, damit es mir schlecht wurde und ich zu Hause bleiben durfte.
An Weihnachten, als ich 15 war, bot mein Vater meiner Schwester an, ihr eine Skitourenausrüstung zu schenken.
Ich verzog mich in die hinterste Ecke und hoffte, dieser Kelch möge an mir vorübergehen.
Pläne über den Haufen zu werfen und etwas völlig Neues zu wagen braucht Mut.
Sind Sie eine selbstsichere Person?
Ich habe eine extreme Selbstsicherheit entwickelt.
Ich machte schnell grosse Fortschritte, die ich als ungeduldiger Mensch auch gleich am Berg in die Praxis umsetzen wollte.
Gepaart mit meinem unbändigen Willen, dem Siegesdrang, meiner Ausdauer und meinem grenzenlosen Enthusiasmus machte mich das am Berg jahrelang unschlagbar.
Dessen war ich mir bewusst, und wer besser sein wollte als ich, musste mir das beweisen.
Ich war auch ziemlich angefressen, als andere mit der Zeit aufholten und an mir vorbeizogen.
Heute kann ich darüber schmunzeln.
Allerdings habe ich diese Selbstsicherheit nicht auf allen Ebenen des Lebens.
Können Sie auch anderen Personen vertrauen?
Bei mir haben Menschen schnell einen gewissen Vertrauensvorschuss.
Ob dieser gerechtfertigt ist, zeigt sich erst, wenn man miteinander eine gewisse Wegstrecke zurückgelegt hat.
Um am Berg zu bleiben: Wenn ich mit einem Gast den Aufstieg zur Hütte mache, gibt mir dieser Hüttenaufstieg sämtliche Informationen, um anderntags die Fähigkeiten des Gastes am Berg richtig einschätzen zu können. Ausdauer, Trittsicherheit, Erfahrung und so weiter.
Können Sie Menschen auch im privaten Bereich so gut lesen?
Es dauert länger. Ich kann die Grundzüge eines Menschen erkennen, aber um jemanden wirklich kennen zu lernen,
braucht es wieder diese gemeinsame Wegstrecke. Daran kommt niemand vorbei.
Und ich muss gestehen, dass ich mich manchmal täusche.
Als Bergsteigerin und als Helikopterpilotin müssen Sie auch dem Material vertrauen können.
Ist das bis zu einem gewissen Grad Vertrauen, gepaart mit der Hoffnung, dass das Material schon halten wird?
Ob im Gebirge oder im Helikopter: Wenn etwas passiert, liegt es in den seltensten Fällen am Material.
Das Vertrauen in dieses Material holt man sich auch, indem man Notfallprozeduren immer und immer wieder im Kopf abspult und indem bei Rettungsübungen
und sogenannten Checkflügen alles in der Praxis durchgespielt wird, was eigentlich nicht passieren sollte.
Also ist Vertrauen in sich selbst wichtiger als Vertrauen ins Material?
Ja, denn man darf im Notfall nicht in Panik ausbrechen.
Das ist eine meiner grössten Stärken: Ich kann in Notfallsituationen noch 20, 30 Prozent Energiereserven abrufen,
wenn die meisten bereits aufgeben oder in der Situation apathisch werden. Dann schalte ich auf Autopilot und funktioniere so, wie es die Situation erfordert.
Wie trainiert man das?
Gar nicht, das kann ich nicht trainieren oder simulieren.
Ich habe erst mit der Zeit gemerkt, dass ich dieses Talent habe.
Denn auch wenn schlimmste Situationen eintraten und ich einfach tat, was getan werden musste,
empfand ich das als völlig normal. Erst im Nachhinein merkte ich,
dass dieser Notfall-Autopilot nicht normal, sondern aussergewöhnlich ist.
Es ist der reine Überlebenswille, den ich für mich, aber auch für die Beteiligten einsetze.
Aussergewöhnlich war auch Ihre Leistung, 2001 als erste Schweizerin den Mount Everest zu besteigen.
Hat man da das Gefühl, «es geschafft» zu haben?
Nein, dieses Gefühl hatte ich, als ich mit 20 das erste Mal den Wetterhornpfeiler erklettert hatte.
Und dann nochmals nach der Besteigung der Eigernordwand im Winter mit 22.
Da hatte ich das Gefühl, dass mir jetzt keiner mehr etwas beibringen kann.
Am Everest fühlte es sich mehr an wie die Belohnung für viel harte Arbeit, Wissen und Können.
Erst als ich wieder in der Schweiz war und alle meine Leistung feierten, realisierte ich,
dass ich Aussergewöhnliches vollbracht hatte.
Heute stehen sich die Alpinisten am Everest auf den Füssen.
Wertet das Ihre Leistung von damals ab?
Es sind zwei Paar Schuhe. Heute kann sich eigentlich jeder auf den Everest konsumieren lassen.
Was Bergsteiger wie Reinhold Messner, der den Everest als erster Mensch ohne Flaschensauerstoff erreichte,
oder eben auch ich mit meinem Alleingang auf den Everest-Gipfel geleistet haben,
können Bergtouristen gar nicht richtig einschätzen.
Reinhold Messner hat sich lange Zeit über diese Entwicklung echauffiert, mir persönlich ist es relativ egal.
Die Formulierung «den Berg bezwingen» mögen Sie gar nicht …
Weil sie eine arrogante Haltung widerspiegelt. Wer einen Berg bezwingen will, muss ihn abtragen.
Die Berge stehen, ob wir sie besteigen oder nicht.
Wie man so sagt: Was auch immer passiert, dem Eiger ist’s egal.
Sie waren 484 Tage unterwegs zum Südpol – zu Fuss, auf dem Rad und mit Skis.
Mussten Sie sich dazu selbst bezwingen?
Die Gesamtstrecke von über 25›000 km, durch 16 Länder und die Antarktis war teilweise wirklich extrem anstrengend und
nicht immer nur schön und spannend. Zudem wusste ich nicht,
ob das Geld reicht oder ob ich trotz der vierjährigen Planungsphase ausreichend vorbereitet bin.
Ich hatte manchmal auch Schwierigkeiten, mich zu motivieren.
Aber all diese Hindernisse bewirken, dass man plötzlich an kleinen Dingen wie einem Mondaufgang Freude hat.
Alle Hochs und Tiefs verschmelzen zu einem extrem reichhaltigen Erlebnis.
Und wenn man am Südpol ein Wetterphänomen erlebt, bei dem man glaubt,
vier Sonnen gleichzeitig zu sehen, weiss man:
Ja, genau deshalb habe ich das alles auf mich genommen.
Da kann keine Luxus-Weltreise mithalten.
Weshalb anschliessend noch der Nordpol?
Ursprünglich hatte ich nach dem Südpol genug.
Diese Expedition hatte mich total erschöpft.
Der Nordpol klopfte aber immer wieder in meinen Gedanken an,
und letztlich half die Expedition auch, mich aus einer unguten privaten Situation zu lösen.
Wer Extremes sucht, kann den Tod finden.
So geschehen bei Ueli Steck, der 2017 in Nepal ums Leben kam …
Natürlich, es kann immer etwas Unvorhergesehenes passieren.
Und das Risiko eines fatalen Eigenfehlers wird grösser, je länger man etwas auf diesem exponierten Niveau betreibt.
Der Grat zwischen Selbstvertrauen und Selbstüberschätzung ist schmal?
Sehr, vor allem in jungen Jahren.
Bei Ueli Steck konnte man erkennen, dass sein Fokus schleichend immer weniger auf sich und seine Expeditionen,
sondern immer deutlicher auf die Öffentlichkeit gerichtet war.
Der Druck auf ihn stieg stetig, und es gab zunehmend mehr Faktoren,
die ihn vom Wesentlichen ablenkten:
der absoluten Konzentration auf sich selbst.
Das war wohl mit ein Grund für das, was geschah.
Kalkuliert man den Tod mit ein, wenn
man aufbricht?
Ich habe vor jeder grösseren Unternehmung ein Testament geschrieben.
Denn spätestens,
wenn die ersten Kollegen von ihren Expeditionen nicht mehr nach Hause kommen,
wird einem deutlich vor Augen geführt, was alles passieren kann.
Sie erlebten selbst auch so manchen Rückschlag.
Wie gewinnt man danach wieder vertrauen zu sich und seinem Körper?
Das Körperliche ist durch gezieltes Training schnell wieder auf einem gewohnten Niveau.
Auf der mentalen Seite kann es schwieriger werden – je nach dem, welche Faktoren zusammenspielen.
Ich habe zum Glück einen kleinen Freundeskreis,
bei dem ich meine Sorgen und Probleme diskutieren kann.
Denn alles in sich hineinfressen, bringt einen nicht weiter.
Das zweite ist, ehrlich zu sich selber zu sein, Schwächen zuzulassen und sie sich einzugestehen.
Manchmal muss man zudem harte Entscheidungen treffen, zum Beispiel,
wenn man Beziehungen pflegt, die einem bei genauer Betrachtung nicht mehr gut tun.
Heute bin ich bereit, solche Kontakte abzubrechen.
Das hat nichts mit Egoismus zu tun, sondern damit, dass man gut zu sich selber schaut.
Als Bergführerin vertrauen Ihnen Ihre Kunden.
Wie gehen Sie mit dieser Verantwortung um?
Verantwortung zu übernehmen, hat mich nie unter Druck gesetzt,
auch nicht in jungen Jahren. Das liegt vermutlich daran, dass ich mein Handwerk beherrsche.
Aber ich scheue mich nicht, andere Menschen um Rat zu fragen, wenn es nötig ist.
Auch am Berg. Dafür darf man sich nie zu schade sein.